#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #53

Als Frank im April 2020 seine Idee zum Community-Projekt publik machte, war ich von der Idee begeistert. Ein Buch, 100 ikonische Streetphotos und 100 Fotografen, die es sich zur Aufgabe machen würden die einzelnen Bilder neu zu interpretieren.

Dennoch habe ich kurz gezögert und mich gefragt, ob es klug ist, mich für dieses Projekt zu bewerben. Seitdem ich 2013 angefangen habe zu fotografieren bin ich in der Naturfotografie zu Hause. Landschaften, Pflanzen und Tiere, da fühle ich mich wohl, das kann ich. Street ist ein völlig anderes Metier, in dem ich mich mangels Interesse noch nie versucht habe. Aber da so ein Projekt von verschiedenen Fotografen lebt, habe ich mich dazu entschlossen meine Komfortzone zu verlassen und die Herausforderung anzunehmen.

 Unseren Newsletter bekommst Du hier: 

Das mir zugeteilte Bild wurde von der Fotografin und Fotojournalistin Ruth Orkin 1951 in Florenz aufgenommen und trägt den Namen „American Girl in Italy“. Zu sehen ist eine große Frau, die sich selbstbewusst durch eine Gruppe umstehender Männer bewegt, die sie anschauen.

Dieses Foto ist, entgegen der meisten Streetfotos, kein Zufallsprodukt sondern tatsächlich geplant entstanden. Ruth Orkin und ihr Model Ninalee Craig haben in Italien im gleichen Hotel übernachtet und sind sich dort zufällig begegnet. Ruth Orkin hatte zu dem Zeitpunkt bereits eine Fotostrecke über eine allein durch Europa reisende Frau im Kopf und setze diese Idee am nächsten Tag mit Ninalee Craig um. Die beiden Frauen zogen durch die Straßen von Florenz und machten Fotos. Bei dem besagten Foto hatte der Mann auf dem Motorrad rechts im Bild den anderen Männern die Anweisung gegeben, auf das Model zu schauen. So entstand der Eindruck, dass alle Männer sich auf die einzige Frau im Bild konzentrieren und diese teils interessiert, teils belustigt wahrnehmen.

Als ich das Bild betrachtet, und mir Gedanken zur Umsetzung gemacht habe, kamen mir viele verschiedene Ideen in den Kopf. Eine davon war es, ein typisches Klischee zu bedienen – eine Frau die an einer Baustelle vorbeigeht und der die Männer hinterherpfeifen. Je länger ich mich mit dem Foto beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass meine persönliche Interpretation in eine andere Richtung geht. Ich wollte das Thema „anders sein“ aufgreifen. Bei Orkin war es die Amerikanerin, die selbstbewusst allein durch die Straßen lief. Ein Bild, dass zu der damaligen Zeit in Italien offensichtlich unüblich war.

Meine nächste Idee war es, das Thema in einen Kontext zu Corona zu setzen. Da die Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen vor kurzem aufgehoben wurde, kam mir in den Kopf ein Foto von einer Person zu machen, die einen Mund-Nasenschutz trägt, während die Masse um sie herum ohne Maske unterwegs ist. 

Letzten Endes kam mir die Hochzeit einer Freundin in den Sinn. Ihr Mann trug zur Hochzeit ein eher ungewöhnliches Outfit: einen Brokat-Gehrock, Stock und Hut. Während bei Ruth Orkin das Model also ihrer Zeit voraus war und ein Stück weit die moderne, alleinreisende Frau verkörperte, wollte ich das Gegenteil abbilden. Einen Mann, der auf den ersten Blick durch sein altmodisches Outfit nicht mehr in die heutige Zeit passt. Da ich dieses wesentliche Element in meiner Interpretation umgekehrt habe, war es für mich logisch, dass auch der Rest möglichst gegensätzlich zum Original dargestellt werden sollte.

Anstatt der Männer, sind es bei mir Frauen, die um den Hauptakteur herumstehen und schauen. Das alte Motorrad habe ich durch einen modernen E-Scooter ersetzt, den es zu Zeiten von Gehröcken und -stöcken garantiert noch nicht auf den Straßen gab. Und anstatt einer Kurve als Wegführung habe ich mich für eine klar abgegrenzte Ecke entschieden. Selbst das Wetter ist meiner Idee gefolgt. Bei der original Aufnahme sind keinerlei Schatten auf dem Bild zu sehen und somit war es damals vermutlich bewölkt, aber dabei offensichtlich trocken. Für uns gab es am Tag der Umsetzung ebenfalls Wolken… und reichlich Regen. Das hatte zur Folge, dass es in der Stadt fast menschenleer war, und somit schwierig, ausreichend Mitwirkende für das Projekt zu gewinnen.

Letzten Endes war es aber wie bei dem Foto von Ruth Orkin: ihre Tochter hat übermittelt, dass es zwei Versuche benötigte um das Foto   „American Girl in Italy“ im Kasten zu haben. Auch ich benötigte zwei Anläufe, bis das finale Ergebnis erarbeitet war – mein Foto „Old-fashioned Man in Brunswick“.  

Vanessa Kraußlach, Braunschweig, im Juli 2021