#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #6
Hendrik Rosenboem zum Foto von Alex Webb: Tehuantepec, Oaxaca, Mexico, 1985
Zu mir:
„Wir brauchen eine Familienkamera!“ war sinngemäß die Ansage meiner Tochter (damals noch 6), die mich nach vielen Jahren mit einfachen Digitalknipsen vor genau fünf Jahren dazu bewog, es doch einmal mit einer gebrauchten Spiegelreflex zu versuchen. Das war der Startschuss für eine Leidenschaft, die ihr auf meinem Flickr-Account gerne nachvollziehen könnt: (Flickr: auqanaj) (Instagram: auqanaj).
Die „Familienkamera“ war natürlich schnell bloß „Papas“, jedoch wird sie gerne verliehen und hält so einiges aus. Und es sind inzwischen auch mehr Fotoapparate, also viel mehr, was auch mit meiner neuen Liebe für die Analogfotografie zu tun hat.
Und mindestens einer davon ist fast immer dabei, wenn ich unterwegs bin, auf dem Weg zum Bäcker, beim Wandern, in der Stadt, überall. So entstehen viele Bilder, die sicher eher „rough and dirty“ als „fine art“ sind, aber oft wunderbare Momente festhalten.
Zu Webb:
Der US-Amerikaner Alex Webb, geboren 1952, ist bereits am Ende seines Studiums zu Magnum gestoßen, was eine unglaubliche Leistung ist. Natürlich hat er das verdient – seine Bilder sind voller Leben und oft einfach „magisch“. Dabei verwendet er bald nur noch Farbfilm – Kodachrome –, denn so kann er den Zauber der Tropen am besten festhalten, wie er meint. Webb hat 17 Fotobände herausgebracht, erfährt man auf seiner Website, später auch gemeinsam mit seiner Frau, einer Dichterin und Fotografin. Was ich an seinen Bildern frappierend finde, ist neben den kräftigen Farben die Besonderheit, dass er an allen möglichen und unmöglichen Stellen Personen unterbringt, oft in überraschender Konstellation.
Zum Bild:
„Mein“ Bild stammt aus der Stadt Tehuantepec im Süden Mexikos und wurde 1985 aufgenommen. Es ist nicht so kräftig in der Farbe, sondern eher pastellig, das blasse Blau taucht auf allen Gebäuden und der Kleidung der Akteure auf.
Im Mittelpunkt steht ein Junge, der einen sich drehenden Fußball auf seinem Finger balanciert, absolut lässig und nonchalant – auf der Nagelfläche des rechten Mittelfingers. Gut, sein Gesicht wirkt etwas angespannt. Übrigens sind er und der Ball unscharf, ein Stilmittel, das ich auch gerne anwende …
Um ihn gruppieren sich fünf weitere Kinder in Freizeitkleidung, die offenbar auf den Ball warten, um das Spiel wieder aufzunehmen. Zwei Buben unten links schauen sich aus kurzer Distanz an, auf dem Sockel einer Säule steht hinter der Hauptfigur ein weiterer Junge, der gähnend die Hand zum Mund nimmt, ganz rechts im Mittelgrund einer, der sich abgewandt hat, und hinten gibt es einen einzigen Jungen, der wohl wirklich gerne weiterspielen würde. Hinten rechts bewegt sich eine in Rottönen gekleidete Frau vom Betrachter weg – sie scheint nicht hineinzupassen, ist aber ein Zeichen dafür, dass das Bild nicht gestellt ist. Alles wirkt zufällig, die Stimmung ist ruhig.
Im Hintergrund zeigen sich die Mauern eines Gebäudekomplexes im (neo-)klassizistischen Stil (würde ich sagen), alle Säulen sind hellblau bemalt, der Korpus rein weiß. Links ist an einer Mauer ein Basketballkorb angebracht, ein Ball ist unterhalb des Korbs in der Luft festgehalten.
Der sich drehende Ball im Mittelpunkt ähnelt einer Weltkugel. Da kann man nun einiges hineininterpretieren, aber ich glaube, Webb ist hier einfach seiner Intuition gefolgt und hat so in wenigen Versuchen ein bemerkenswertes Bild geschaffen.
Zur Umsetzung:
Da hab ich schon länger gebraucht: Nach umfangreicher Recherche und der Sammlung von Ideen – unterstützt von unserer Facebookgruppe – bin ich immer wieder einfach losgezogen und habe mögliche Schauplätze abgeklappert.
Ein Bronzeglobus hier in Amberg. Der Bouleplatz (leider bis zum Ende leer geblieben). Mehrere Spielplätze. Das große Sportgelände mit Beachplätzen, Skatepark, Tennis und natürlich Fußball, sowie die große Wiese vor unserem Kongresszentrum, genannt Bleichwiese. Dort lagern besonders jetzt in der Coronazeit immer wieder ganze Familien, auch Jugendliche und überhaupt alle möglichen Leute, und dort wird immer auch Ball gespielt.
Da habe ich es dann wie Webb gemacht: Dabeistehen, mit den Leuten reden und zwischendurch fotografieren. Eine Gruppe junger Männer hat mir spontan erlaubt, Fotos zu machen – nichts Gestelltes, sondern aus dem Spiel heraus. Ich habe natürlich eher auf die Pausen gewartet. Danke, Jungs, fürs Mitmachen!
In der Abenddämmerung war es etwas schwierig mit der Automatik, da musste ich auf M gehen. Die Belichtungszeit von 125 hat super gepasst, der Ball ist oft schön in verschwommener Drehung, jedoch leider beim Favoriten nicht.
Und erst beim Bearbeiten ist mir aufgefallen, wie sehr die rote Hose des einen Spielers heraussticht – da konnte ich nicht mehr viel machen als die Sättigung herauszunehmen. So ist der Look am Ende auch etwas pastellig, jedoch überhaupt nicht einheitlich. Eine weitere Panne – meine Beine sind jetzt noch ganz zerstochen von den blöden Kriebelmücken dort …
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Hier also die Ergebnisse – eins mit drehendem Ball, aber zu viel Action, schließlich mein Sieger, wo sogar die Säule drauf ist und die Armhaltung der Wartenden ganz ähnlich wie im Webb-Bild. Ich finde es im Ganzen stimmig – mehr war jedenfalls in der Kürze der Zeit nicht drin. Auf den Platz unter den berühmten Magnum-Fotografen muss ich aber wohl leider noch etwas länger warten …
Was ich gelernt habe:
- Ein Bild auf Knopfdruck zu liefern ist eine große Herausforderung (Respekt vor allen Profis!).
- Mit vorgefertigter Bildidee loszuziehen macht es nicht einfacher.
- In der Gruppe stellt man sich so einem Challenge erheblich leichter – und es macht mehr Spaß.
- Wenn man Schiss hat, sollte man mit den Leuten reden.
- Das Bild so zu bevölkern, wie Webb es schafft, ist unheimlich schwierig. Eine größere Brennweite hätte es leichter gemacht, besonders bei der Staffelung.
- Der entscheidende Moment ist schnell vorbei, wenn man beim Fotografieren Mücken verscheuchen muss. ;)
Hendrik Rosenboem, Amberg, Juni 2020