#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #7
#communityproject100 – 100 ikonische Streetfotos #7
Interpretation des Fotos Paris 1967 von Joel Meyerowitz von Martin Bracke
Über mich Zur Fotografie fühle ich mich schon seit meiner Kindheit hingezogen, als ich mit einer analogen Kamera so viele Filme belichtet habe, wie es mein Taschengeld erlaubt hat. So ein richtiges Spezialgebiet habe ich nicht, mich interessieren sehr viele Themen. Ein Schwerpunkt ist sicher die Naturfotografie und bisher war es bei mir die Streetfotografie eher nicht. Im Urlaub habe ich mich in der Vergangenheit durchaus schon mal darin versucht, aber eher „aus sicherer Entfernung“ mit längeren Brennweiten (versteckt habe ich mich allerdings nicht, d.h. meine Sujets haben schon meist bemerkt, dass ich sie fotografiert habe). Daher ist die Teilnahme am #communityprojekt100 eine echte Herausforderung für mich, bei der ich meine Komfortzone verlassen muss! Ich habe mich riesig gefreut, als Frank mir schrieb, dass ich dabei bin – und war sehr gespannt auf „mein Foto“ und meinen Lernprozess.
Mein Foto Das Foto „Paris 1967“ von Joel Meyerowitz hat mich sehr angesprochen: Ich war direkt von der Szene gefangen und konnte nicht deuten, was da eigentlich genau passiert (war). Auf dem Boden liegt ziemlich eindeutig jemand, der Hilfe braucht. Die Ursache für die Notlage ist nicht offensichtlich, doch der Mann mit einem Hammer in der Hand, der über den Verletzten steigt, weckt Assoziationen. Hat er damit etwas zu tun? Verfolgt er einen Täter? Wir wissen es nicht! Viele Menschen in der Nähe des Hilfsbedürftigen schauen neugierig zu, aber niemand macht Anstalten zu helfen. Einige beachten die Szene hingegen gar nicht und der Verkehr auf der linken Seite läuft unbeeindruckt weiter. Es ist ein Farbfoto – für die Streetfotografie eher untypisch – aber der entsättigte Look mit den sanften Farben passt für mich hier sehr gut.
Joel Meyerowitz Als nächstes habe ich mich mit dem Fotografen beschäftigt. Er wurde 1938 in New York geboren und wuchs in der Bronx auf. Meyerowitz kam aus der Werbebranche 1962 zur Fotografie und wurde schnell mit seinen Straßenszenen bekannt. Der erste von ihm eingelegte Film war ein Farbfilm und er sagte später, dass ihm zu Beginn nicht bewusst war, dass zu dieser Zeit Farbfotografie mit Amateuren und Schwarzweiß mit Künstlern assoziiert wurde. Auf einer langen Reise durch ganz Europa, die er 1966 startete, machte er rund 25.000 Aufnahmen, etwa jeweils zur Hälfte in Schwarzweiß und in Farbe. Er verglich genau die Ergebnisse und Wirkungen und fotografiert nach einigen Jahren weiterer Experimente nur noch in Farbe. Kurz gesagt ist sein Ergebnis, dass er Schwarzweiß verwendet, wenn er graphische Elemente und die Gestaltung hervorheben wollte. Möchte er das Leben in seiner Vielfalt darstellen, setzt er auf farbliche Abstufungen und Leuchtkraft des Farbfilms.
Cool! Der Mann gefällt mir und seine Ansicht zum Thema Farbfotografie finde ich interessant. Somit ist klar, dass meine Interpretation in Farbe sein wird. Die sanften, entsättigten Farben möchte ich gerne übernehmen.
Meyerowitz und Paris 1967 Nachdem ich das Foto auf mich wirken lassen hatte, las ich den zugehörigen Text im Buch. Und der ist aufschlussreich: Der am Boden liegende Mann hatte sehr wahrscheinlich einen epileptischen Anfall, d.h. keiner der in der Szene zu sehenden Menschen ist Schuld an seiner Notlage. Es gibt keine Täter und kein Opfer – trotzdem kann es auf den Betrachter so wirken. Es wird also in dieser Szene des alltäglichen Lebens („Paris 1967“) ein Widerspruch deutlich zwischen Gleichgültigkeit und Neugier, Abstand und Nähe zum „Opfer“. Meyerowitz beschreibt das selbst noch präziser, ich habe es im Buch angestrichen und die für mich wichtigen Stellen herausgeschrieben. Der Fotograf ist hier quasi Teil der Szene, er ist auf seine Weise agiler als der Mann mit dem Hammer!
Und Meyerowitz regt sich über die beobachtete Szene auf, die Situation macht etwas mit ihm: „Those fuckers, not one of them helps him up.“ Zusammen mit dem Titel „Paris 1967“ macht das für mich eine Art der Gesellschaftskritik aus, die der Fotograf hier übt.
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Meine Interpretation So, jetzt bin ich an der Reihe. Das Foto glaube ich verstanden zu haben – doch was mache ich daraus? Mir schießen Szenen durch den Kopf: „Gaffer und Handyfotografen bei einem schweren Unfall“ oder “Demonstranten als Opfer von Gewalt“. Kann ich so etwas fotografieren? Möchte ich so etwas fotografieren? Nicht einfach! Mir fallen auch harmlosere Szenen ein: „Jemand kommt aus dem Supermarkt, die Einkaufstüte reißt und der Inhalt verteilt sich über den Boden – Leute stehen als Zuschauer daneben oder schauen weg, während der Pechvogel die Einkäufe wieder einsammelt.“ Das kann ich mir vorstellen, aber ich möchte nichts inszenieren. Irgendwie habe ich die Idee, dass Streetfotografie eine „naturbelassene Szene“ zeigt.
Der Text im Buch gibt einen Hinweis dazu: Man ist voller Aufmerksamkeit unterwegs, eine lohnende Szene halb erhoffend und halb erwartend. Ok, das klingt einleuchtend – und zeitintensiv…
Als ich meiner Schwester von meinem Fotoprojekt erzähle und ihr auch das Bild zeige, hat sie gleich eine Assoziation: Ihr Sohn, mein Neffe Vincent, ist beinahe 15 Jahre alt und seit frühester Kindheit an einer schweren Form der Epilepsie erkrankt. Das war sicher der direkte Bezug zur Szene. Die nächsten Gedanken sind die vielfältigen Reaktionen der Mitmenschen, die beide seit vielen Jahren täglich erleben. Sie können zum einen sehr positiv und freundlich sein, zum anderen aber auch abweisend, erschrocken und gleichgültig. Meine Idee dazu ist, dass ich mit meinem Foto einen Widerspruch in einer Alltagsszene von Vincent darstelle. Wie genau dieser Widerspruch aussehen wird, ist zu Beginn unklar. Es wäre möglich, eine unerwartet positive Szene zu zeigen, welche das nicht präsente übliche Verhalten kontrastiert. Oder aber eine typische Szene, die man leider beobachtet, aber nicht gerne als Standard sehen möchte.
Eine konkretere Idee hatte ich nicht und ohne eine Inszenierung blieb mir nur das Motto meines Vorbildes, die Sache mit Hoffnung und erhöhter Aufmerksamkeit auf mich zukommen zu lassen.
Unerwartete Schwierigkeiten Obwohl ich die Herausforderung als sehr groß empfand, war ich mit dem Start sehr zufrieden. Und dann lief es etwas anders als gedacht: Vincent hatte eine richtig schlechte Woche, teilweise mit Magenprobleme und mehrmals mit starken Anfällen – entweder in der Nacht, so dass er tagsüber komplett erschöpft war oder kurz vor dem Start zu einem gemeinsamen Stadtbesuch. Wir haben uns im Laufe der Woche einige Male verabredet und bekamen einfach keinen gemeinsamen Ausflug hin. Am Ende der ersten Woche bin ich dann anstelle des geplanten gemeinsamen Besuchs des Wochenmarkts alleine dort gewesen und habe auch eine ganze Reihe von Fotos gemacht. Eine für mein Projekt passende Szene konnte ich aber nicht einfangen, nach 3h war ich immer noch ohne ein erstes Foto. Dafür konnte ich aber einige Bilder zur aktuellen Insta-Challenge von Frank zum Thema „ÖPNV“ mit nach Hause nehmen. Immerhin!
Richtig nervös wurde ich erst, als die nächsten beiden Treffen auf nicht klappten und ich am Mittwoch, dem klassischen Termin für die Abgabe der Endergebnisses noch ohne mein Foto da stand. Ich hatte mehrmals überlegt, doch auf eine der anfangs überlegten Inszenierungen zu switchen, doch irgendwie dachte ich die ganze Zeit, dass wir unseren Stadtausflug hinbekommen. Am Mittwoch habe ich dann einen Plan für die folgenden Tage gemacht und Frank vorgeschlagen, der einverstanden war (danke für dein Verständnis, Frank!). Und es hat sich gelohnt, finde ich. Zwei Mal war ich mit meiner Schwester und Vincent in der Stadt, auch der angedachte Besuch auf dem Wochenmarkt wurde etwas und ich hatte am Samstag über 500 Fotos auf der Festplatte und jede Menge Eindrücke und Erfahrungen.
Mein Foto „Deutschland 2020“ Mein Endergebnis benenne ich in Anlehnung an den Originaltitel. Und die Auswahl fiel mir nicht leicht. Bevor ich zu diesem Bild komme, möchte ich einige weitere zeigen, die in den beiden Tagen entstanden sind und die für mich im Gesamtprozess wichtig sind. Relativ zu Beginn entstand „Bank & Pensionäre“, das irgendwie schon in die richtige Richtung geht, auf der anderen Seite aber für mich nicht den Widerspruch zeigt, den ich gerne mit meinem Bild erzeugen wollte.
Den habe ich meiner Meinung nach im Bild „Erschrockene Frau“, denn man könnte denken, dass die erschrockene Geste sich auf Vincent bezieht. Wenn man genau hinschaut sieht man, dass sie nicht ihn anvisiert und sich damit ziemlich sicher über eine andere Situation wundert.
Da ist der Interpretationsspielraum beim Betrachter, der in Nachdenken über den Umgang unserer Gesellschaft mit Szenen wie dieser resultieren kann.
Uns ist auch eine Szene begegnet (“Krankenwagen“), die evtl. real und dramatisch verlaufen ist.
Da konnte und wollte ich allerdings nicht bleiben und warten, was passiert. Zum Ende des ersten Ausfluges ergab sich eine Szene, die eine sehr positive Situation quasi als Übertreibung des „Standards“ zeigt („Fröhliche Familie“).
Es gab weitere solcher positiver Szenen, doch ist es manchmal ein flüchtiger Blick mit einem Lächeln, den man selbst inmitten der Szene wahrnimmt, den ich allerdings nicht fotografisch festhalten konnte.
Am zweiten Tag gab es eine interessante Situation mit einer Interaktion zwischen Vincent und seiner Umgebung – zumindest sieht es auf dem Bild so aus (“Drei Frauen“).
Ich finde das Bild auf seine Weise interessant, aber es passt für mich nicht ganz als Interpretation von „Paris 1967“. Letztlich ist meine Interpretation eine geworden, die die Reaktion eines Kindes auf Vincent zeigt. Die Erfahrung meiner Schwester – die ich während dieser insgesamt rund 5h, die ich mit der Kamera begleitet habe, sehr oft selbst beobachten konnte – ist, dass Kinder fast immer sehr offen auf Vincent und die ungewöhnliche Situation eines großen, im Rollstuhl sitzenden Kindes reagieren. Sie sind oft erstaunt und neugierig, aber auf eine positive Weise. Ich würde sagen, sie sind interessiert am anderen. Und gleichzeitig reagieren die begleitenden Erwachsenen sehr oft in einer Weise, die Gleichgültigkeit ausdrückt.
Eine solche Situation zeigt „Zwillinge mit Sonnenbrille“, eine weiter, die schließlich aus den genannten Gründen mein Favorit geworden ist, zeigt das Bild „Deutschland 2020“. Ich hoffe, dass dieses Foto nicht nur mit Hilfe der langen Entstehungsgeschichte und Erklärung wirkt. Für mich zeigt es tatsächlich den Kern dessen, was ich erlebt habe und was mir auch meine Schwester aus ihrer Erfahrung berichtet hat.
Meine Learnings Was habe ich in diesem Projekt gelernt? Eine Menge! Zum einen habe ich mich in Geduld üben müssen und zum Glück am Ende erfahren dürfen, dass sie sich ausgezahlt hat. Ich habe erfahren, wie schwierig es ist, mit einer konkreten Idee ein Streetfoto zu machen. Und ich habe erlebt wie es sich anfühlt, wenn man „halb hoffend, halb erwartend“ voller Aufmerksamkeit auf der Straße unterwegs ist und nicht weiß, was man genau sucht. Dabei habe ich übrigens auch (mindestens) zwei richtig gute Szenen verpasst: Beim ersten Mal hatte ich etwas Gemüse eingekauft und beim Verstauen im Rucksack zog ein Bild an mir vorbei, ohne dass ich meine Kamera griffbereit hatte. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mich ganz auf das Fotografieren zu konzentrieren und ärgerte mich zuerst ein wenig. Aber auf der anderen Seite ist es ein Hobby und ein wenig Wohlfühlen ist auch gut und wichtig! Die zweite Szene verpasste ich, weil ich zum Lösen eines neuen Parktickets kurz am Auto war und bei meiner Rückkehr eine geniale Szene beobachtete, aber wieder keine Chance auf das Foto hatte.
In einer der frühen Folgen der Fotophonie habe ich in den ersten Tagen meines Projekts gehört wie Frank schilderte, dass er einen großen Teil seiner Fotos über das Touchdisplay macht. Das habe ich bisher fast noch nie gemacht, auch nicht bei meinem ersten Stadtrundgang ohne Begleitung. Als ich es dann testete, war es wie eine Offenbarung für mich. Streetfotografie aus der Hüfte mit Auslösen über Touch war natürlich zum einen für die im Vergleich zu laufenden Menschen niedrigere Kopfhöhe von Vincent genau passend, um als Fotograf mitten drin zu sein. Es ist aber auch für andere Motive klasse, zumindest fühle ich mich damit super wohl. Eine weitere Erkenntnis dreht sich um die verwendete Brennweite: Zuerst war mein Plan, die klassischen KB-äquivalenten 35mm zu verwenden. Da ich so etwas nicht habe, war zuerst ein 15/1.7 (also 30mm KB-äquivalent) an der Kamera. Und ich hatte nach dem ersten Tag den Eindruck, dass dies nicht weitwinklig genug ist. So habe ich auch viel mit meinem 8-18mm (also quasi wie ein 16-35mm an KB) fotografiert – und da sehr oft am kurzen Ende. Gerade auf dem Markt war es oftmals so eng, dass ich ein Foto „mitten aus der Szene“ heraus so besser machen konnte, denn der Rollstuhl gehört ja fast zwingend mit ins Bild und braucht Platz. Damit habe ich mich irgendwie wohler gefühlt – interessanter Weise sind fast alle Bilder, die es in die finale Auswahl geschafft haben mit 24-30mm KB-äquivalent entstanden.
An dieser Stelle bedanke ich mich bei allen, die sich die Zeit genommen haben, diesen langen Text zu meinen Erfahrungen mit dem Streetfoto-Projekt zu lesen. Beenden kann ich meinen Erfahrungsbericht aber nicht, ohne meinen großen Dank an Frank zu senden für seine Idee zu diesem Projekt und die Einladung an mich, ein Teil zu sein! Die bisherigen Reaktionen aus der Community in unserer Facebook-Gruppe waren auch sehr positiv und ich hoffe natürlich, dass es so weiter geht. Ich bin super gespannt auf die folgenden Interpretationen und Erfahrungen von euch. Und ich glaube, dass dies nicht meine letzte Erfahrung zur Streetfotografie gewesen ist :)