#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #79
#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #79 Stefan Lauterbach, S. 158/159 > Anders Peterson
Erste Gedanken und Überlegungen:
Als ich gesehen habe, dass das Buch auf dem Weg zu mir ist, stieg die Spannung und die Vorfreude direkt an. „Was für ein Bild würde ich bekommen? Hoffentlich eines, was sich gut umsetzen lässt!“, war einer meiner ersten Gedanken. Ich kannte das Buch bereits, da ich es schon länger besitze, und wusste was da auf mich zukommen könnte. Aber eines war für mich von Anfang an klar, ich wollte das Foto möglichst auf der Straße umsetzen, also ein ungestelltes Street Foto machen. Ein gestelltes Foto wäre nur eine absolute Notlösung gewesen.
Ein Mittwochnachmittag im März, das Paket mit dem Buch lag schon zu Hause auf dem Küchentisch, ich packte es sofort nach Feierabend aus und musste mir natürlich sofort ansehen welches Foto ich umsetzen sollte. „Wow, geniales Foto!“, war der erste Gedanke, der zweite: „Wie mache ich das nur?“ Das Foto wurde in Venedig aufgenommen, da konnte ich auf keinen Fall mal eben hin und ein Kind spielt darauf mit einem Ball. „Uffff…!“ Durchatmen! Ich setzte mich dann erstmal auf die Couch und schaute mir das Buch ein wenig genauer an. Es ist mehr als spannend die Gedanken der anderen Teilnehmer zu lesen und zu sehen, wie sich das Buch durch die gemachten Notizen verändert hat. Auch ich würde jetzt ein Teil davon werden.
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Das Foto und der Fotograf:
Ich las mir zunächst den Text im Buch aufmerksam durch und schaute mir das Foto genaustens an und markierte mir einige Worte und Sätze und machte direkt Notizen dazu. Es tut übrigens mehr als gut, sich mal so intensiv mit einem Foto auseinanderzusetzen. Das Foto ist von Anders Petersen und wurde 1989 in einer etwas düsteren Seitengasse von Venedig aufgenommen. Zu sehen ist ein Junge mit einem Ball in einer anmutigen Haltung, als ob er sich vorm Publikum verbeugen würde und vielleicht gerade einen Trick mit dem Ball aufgehführt hat. Er steht genau auf einem Gullideckel, und wirkt dort perfekt platziert.
Vor allem viel mir die Rauheit auf, von der im Text oft die Rede ist. Dies wird hier im englischen als „gritty“ oder „gravelly“ bezeichnet. Auch kommt immer wieder das Wort „grounded“ vor, womit hier die Straße direkt gemeint ist: „Grounded (or connected) to the street“, also verbunden mit der Straße. Die Fotos von Petersen werden also als geerdet bezeichnet in denen man wortwörtlich den Dreck und die Rauheit spüren kann. So auch dieses Foto hier, wobei hier noch die besonders anmutige Bewegung des Jungen hervorsticht, welche der ganzen Rauen und teils auch düsteren Umgebung eine gewisse Schönheit verleiht.
Petersen ist vor allem für seine Serie aus der Hamburger Kiez Kneipe „Café Lehmitz“ bekannt. Diese Fotos sind mehr dokumentarischer Natur und entstanden über drei Jahre hinweg in den 1960er Jahren. Schon hier zeigte sich seine raue, direkte und ehrliche Art die Menschen, Momente und Geschichten festzuhalten. Gleichzeitig zeigt er sich ehrfürchtig gegenüber seinen Motiven. Petersen selbst bezeichnet sich als eher privaten und nachdenklichen Typen, der Menschen mag. Um sie zu verstehen, möchte er mit den Menschen, die er fotografiert, auch interagieren. Seine Neugierde nimmt nie ab, im Gegenteil, sie steigt stetig an. „Je älter ich werde, desto weniger weiss ich!“, sagte er. Er bezeichnet seine Arbeit auch gerne als „private Dokumentation“ und dafür begibt er sich oft in ungewohnte Situationen, um daraus zu lernen und zu wachsen. Der Bildband „Café Lehmitz“ spiegelt genau das wider. Dieser kam 1978 heraus und gilt bis heute als eines seiner wichtigsten Werke und als Klassiker der Milieufotografie.
Der Zusammenhang zu diesem Street Foto, welches er Jahre später aufgenommen hat, liegt auf der Hand. Schon damals waren die Fotos „gritty and dirty“ und das sind sie auch noch später gewesen. Ein anderer Satz der hier mehr als passt, ist ein Vergleich mit Tom Waits, der eines seiner Fotos aus der Serie „Café Lehmitz“ als Cover für sein Album „Rainy Dogs“ verwendete: „Both deal with the grit of life!“ Was ein toller Zusammenhang und wie passend, auch zu diesem Foto hier. Ich kann nur empfehlen sich mal ein Lied aus dem entsprechenden Album anzuhören und dazu Fotos aus dem Café Lehmitz zu schauen. Auf YouTube gibt es einige Videos, in denen genau das zu sehen ist. Aber auch sonst ist das Gesamte Werk des 1949 in Schweden geborenen Fotografen sehr beachtlich. Im Internet findet man natürlich nur Teile davon. Ich hoffe ich komme irgendwann mal in den Genuss einer Ausstellung von Petersen. Aktiv ist er jedenfalls noch.
Die Umsetzung:
Nachdem ich mich nun mit Foto und Fotograf auseinandergesetzt hatte, musste ich mir überlegen, wo und wie ich das Foto umsetzen kann. Venedig war ausgeschlossen, lange und vor allem solche Art Gassen gibt es in meiner Heimatstadt Frankfurt eher weniger. Hier ist meist alles viel moderner. Und vor allem musste ja noch ein Kind her, das idealerweise mit einem Ball interagiert. Und dann sollte das auch noch rechtlich unbedenklich werden. Also kein Gesicht erkennbar, so wie es im Original auch der Fall ist.
Der erste Gedanke war eine große Sportparkanlage mit Skatepark am Frankfurter Osthafengelände in der Nähe der neuen EZB. Und (fast) genau da wurde ich dann fündig. Ich wusste, dass es hier jede Menge Basketballfelder und Fußballplätze gibt. Auch gibt es dazwischen lange und schmale Gänge. Diese könnten vielleicht als Ersatz für die Gasse im Originalfoto dienen. Soweit die Überlegungen.
Am Wochenende darauf war mir sogar das Wetter entgegengekommen und somit stieg die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt jemand vor Ort sein wird. Denn dort ist kaum jemand unterwegs, wenn es regnet. Andererseits ist das Originalfoto eher düster und Schatten gibt es dort auch nicht zu sehen, also schien auch nicht die Sonne. Zumindest nicht mehr in dieser Gasse. Doch das gute Wetter sollte sich doch eher als Vorteil erweisen. Ich probierte also verschiedenes, dachte mir auch, dass es ja nicht unbedingt ein Kind sein muss, nachdem ich einige ältere Jugendliche beim Basketball spielen fotografiert hatte. Dann aber, nach einer kleinen Kaffee Pause und wirklich herrlichsten Wetter, wollte ich mich nicht so einfach zufriedengeben. Bisher ergaben leider die langen Gänge nichts, da hier entweder zu viele Menschen waren oder eben kein Kind mit Ball. Die waren ganz so wie es sich gehört im Fußball oder Basketballgehege. Niemand kam heraus und spielte auf der Straße weiter. Ich lief also weiter etwas umher und nachdem mir leider irgendwann die Geduld ausging, versuchte ich etwas anderes.
In unmittelbarer Nähe zu dem Sportgelände, ist eine mächtige alte Eisenbahnbrücke über den Main gespannt. Auch als Fußgänger kann man diese überqueren. Von dort oben hat man eine gute Sicht auf eine interessante Wegführung, die darunter angelegt wurde. Wenn man von oben schaut, erkennt man dort viele Linien und geometrische, geschwungene Formen. Es sieht in etwa so aus, als würde man auf eine Landkarte schauen. Ich dachte mir, das könnte doch jetzt als Straßenersatz dienen, quasi aus einer Art Vogelperspektive.
So symbolisieren die geschwungenen Wege die Gassen, die Rasenfelder die Kanäle von Venedig und die langen zulaufenden Linien die Wäscheleinen, die man im Originalfoto sehen kann. Mit etwas Fantasie kann man sich das gut vorstellen. Jetzt müsste natürlich „nur“ noch ein Junge mit einem Ball daher laufen. Und was soll ich sagen, ich hatte Glück und der Junge kam wirklich vorbei. Er war zunächst nicht isoliert und es liefen dort ziemlich viele Menschen entlang. Doch ich konnte ihn in einem Moment, durch etwas antizipieren, dann doch so fotografieren, dass nur er auf dem Foto zu sehen war und somit einsam und allein auf dem rauen Beton mit seinem Ball spielte. Zwar wäre mir die linke untere Ecke lieber gewesen, wie im Original, aber man kann nun mal nicht alles haben. Immerhin hatte der Junge einen Ball, der auf dem finalen Foto auch noch anmutig an seiner Hand zu kleben scheint und somit fast schwebend daherkommt. Außerdem hatte er die andere Hand gerade auf sein Gesicht gehalten: Perfekt! Die Haltung passte für mich und das Foto war im Kasten. Später am PC habe ich versucht das Bild noch etwas mehr „gritty and dirty“ wirken zu lassen und vor allem wie auf grobkörnigen schwarz/weiß Film aufgenommen, aussehen zu lassen. Hierzu hatte ich bereits vorher in meiner Fuji Kamera eine entsprechende Filmsimulation eingestellt und dann das Foto in Lightroom noch weiter angepasst.
Fazit:
Am Ende bin ich doch sehr zufrieden mit dem Ergebnis, wobei ich zwischenzeitlich dachte, dass ich es vielleicht nicht schaffe und im Hinterkopf schon überlegte, wie ich das Bild stellen kann. Doch eigentlich wollte ich das nicht und zum Glück musste ich es auch nicht. Ich bin froh, dass es beim ersten Anlauf funktioniert hat. Das ganze Projekt hat mir sehr viel Freude bereitet. Ich habe gemerkt, dass ich mich schon lange nicht mehr so intensiv mit einem Foto auseinandergesetzt habe und nehme für mich mit, das nun wieder öfters zu tun. Warum auch nicht diese Art Projekt für sich selbst weiterführen? Ab und zu versuchen ein Foto was mir gefällt nachzustellen oder eben auf eigene Weise zu interpretieren. Man bekommt so eine besondere Beziehung zu dem Foto. Dem Original und dem Eigenen. Zudem war es eine wirkliche Herausforderung und hat mich dazu gebracht, um die Ecke zu denken und aus meiner Komfortzone zu gehen. In diesem Sinne, gerne wieder und Anders Petersen hat nun einen neuen Fan.
Über mich:
Ich bin Stefan Lauterbach, 39 Jahre alt, komme aus Frankfurt am Main und mache hier und auch manchmal anderswo, seit ca. 2017 Street Fotografien. Vorher fotografierte ich auch schon ziemlich lange, doch erst seitdem ich die Street Fotografie für mich entdeckt hatte, kann ich gar nicht mehr ohne Fotografie sein. Es ist zu einer echten Leidenschaft geworden. Die Kamera habe ich fast immer dabei und bin derzeit sehr aktiv. Die meisten meiner Fotos entstehen tatsächlich dort, wo ich wohne, also in Frankfurt. Aber genauso liebe ich es andere Orte zu entdecken und gehe gerne auf Fotoreisen in andere Städte oder auch ins Ausland. Man findet mich auch auf Street Photo Walks in Frankfurt mit meinem Kollektiv „Collateral Eyes“ oder zu Gast, zum Beispiel in Köln oder anderen Orten. Die Community ist mir wichtig, ich hätte damals nie gedacht, dass ich so viele nette und großartige Menschen über die Street Fotografie kennenlernen werde. Dafür bin ich dankbar.
Instagram: @stefan_lauterbach_photography