#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #84
Als ich am 11. Mai 2022 das Buch in meinen Händen hielt und etwas aufgeregt meine Doppelseite rausgesucht hatte, musste ich erst mal schlucken und mein erster Gedanke war: „What the …?!“ Fast 14 Monate hatte ich nach meiner Anmeldung im März 2021 auf diesen Moment gewartet … und nun sollte ich dieses Bild nachstellen? Wie sollte das gehen? Ich war verunsichert. Also erst mal tief durchatmen und das Ganze systematisch angehen.
Zuerst las ich mir den Artikel zum Fotografen Dario Mitidieri durch und recherchierte ein wenig.
Dario Mitidieri (*1959) ist ein italienischer Fotojournalist, der derzeit in London lebt. Er wurde vor allem durch seine dokumentarischen Schwarzweißfotos bekannt, in denen er einige der bedeutendsten Ereignisse unserer Zeit festhielt wie z.B. das Erdbeben in Kobe (Japan) von 1995, den Irakkrieg oder den Tsunami von Indonesien Weihnachten 2004.
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1992 verbrachte er ein ganzes Jahr damit, die Straßenkinder von Bombay zu fotografieren. Er wollte das wahre Leben dieser Kinder dokumentieren, ihre Ängste, das Elend, ihren stetigen Kampf zu überleben, aber auch ihre unbändige Freude am Leben selbst. Am Ende veröffentliche er das Buch „Die Kinder von Bombay“ und wurde dafür mit dem W. Eugene Smith Preis für humanitäre Fotografie ausgezeichnet.
Das Bild, um das es hier geht, nannte er „Savita - The girl on the pole“. Savita war zum damaligen Zeitpunkt etwa 2 ½ Jahre alt und führte zusammen mit ihrem Vater Kunststücke für die Touristen vor. Mitidieri war frustriert an diesem Tag, weil er noch keine guten Bilder gemacht hatte und schoss das Foto mehr aus der Not heraus … nicht ahnend, dass dieses Foto sein Leben verändern würde.
Und nun stand ich vor der Aufgabe, dieses Bild nachzuahmen. Keine leichte Aufgabe. Mir war klar, dass ich natürlich unmöglich ein kleines Kind auf einen 5-Meter langen Stock stellen und winken lassen konnte. Mal ganz von der Tatsache abgesehen, dass ‚Kinder zu fotografieren‘ eine ganze Reihe eigener Probleme mit sich bringt. Aber Tatsache war auch: Ich brauchte ein Kind!
Ich habe keine eigenen Kinder, die mir vielleicht Enkel im entsprechenden Alter beschert haben könnten. Und fremden Kindern auf einem Spielplatz „auflauern“ stand für mich völlig außer Frage, selbst wenn ich eventuell das OK der Eltern bekommen hätte (sofern ich mich getraut hätte zu fragen). Also wandte ich mich an die einzige Person, die mir hier aushelfen konnte … meine Kollegin, die eine äußerst entzückende, kleine Tochter von etwa 1 ½ Jahren hat. Und wie ich es gehofft hatte, war sie bereit, mir ihre Kleine für ein Foto-Shooting „auszuleihen“. Aber wer schon mal so kleine Kinder fotografiert hat, weiß, dass eigentlich nichts an solchen Fotos gestellt, geschweige denn planbar ist. ;)
Aber vorher blieb noch die alles entscheidende Frage: Wie sollte ich dieses Foto umsetzen?
Eher mit einem Augenmerk auf die rein technischen Details oder im Sinne des Fotografen die soziokulturellen Aspekte imitieren? Letzteres gestaltet sich in unseren Breiten und vor allem in meinem Umkreis etwas schwierig. Ich habe mich daher für eine Mischung zwischen den technischen Details und einer etwas eigenen Deutung des Bildes entschieden.
Das Bild stellt ohne Frage einen Balanceakt dar – zwischen Freude und Leid der Kinder in Bombay. Aber für mich könnte es auch den Balanceakt zwischen einem Kind und seiner Mutter bedeuten. Das Kind, das im übertragenen Sinn nach den Sternen greift; also nach allem, was ihm das Leben in Zukunft bietet und die Mutter, die es zum einen halten und beschützen, ihm aber auch die Freiheit geben möchte, sich eigenständig zu entwickeln.
Auf der anderen Seite waren da die technischen Details:
- das Kind mittig im oberen Drittel des Bildes, den Blick nach rechts (nach links vom Betrachter aus), winkend/greifend, und auf irgendetwas balancierend
- ein sehr heller, fast ausgebrannter Hintergrund ohne störende Details (Bäume, Häuser, etc.)
- eine leicht rauschige Schwarzweißfotografie
- viel „negative space“ (was hier schwierig war, da die Mutter, die die kleine Hand hält, nicht im Bild sein sollte, sondern nur ihre Hand)
Mit diesem Grundgerüst, das ich in einem ausführlichen Brainstorming mit der Mutter (wir mussten ja besprechen, was von alledem überhaupt mit der Kleinen machbar war ;)) erarbeitet hatte, ging es also am Freitag nach der Arbeit ins nah gelegene Naturgebiet, auf dem seit Jahren ein kleiner Sandberg von etwa 3m Höhe angehäuft ist. Rein zufällig ein sehr beliebter Platz des kleinen Mädchens, denn scheinbar ist nichts toller, als den Sandberg auf dem Hosenboden herunterzurutschen. Dementsprechend schwierig gestaltete es sich, die Kleine dazu zu bewegen, oben auf dem Berg stehen zu bleiben und zu winken (oder in unserem Fall zu zeigen, wie groß sie schon ist). Wie gesagt, runterrutschen ist ja so viel toller und spannender. ;) Gott sei Dank tauchten bald ein paar Hunde in der Ferne auf, denen man auch ganz wunderbar zuwinken konnte. Ich ließ meine Kamera fast im Dauerfeuer durchlaufen, um ja nicht das eine Bild zu verpassen, das ich hinterher benutzen wollte. Nach einer sehr lustigen und auch spannenden halben Stunde war ich mir sicher, dass ich etwas Adäquates im Kasten hatte, zumal die Kleine langsam müde wurde.
Behind the scenes …
Zuhause angekommen setzte ich mich sofort an den PC, um mein Material zu sichten und entschied mich letztendlich für das obige Bild. Aufgenommen habe ich das Bild mit meiner Sony A7iii bei 70mm Brennweite, f/8, 1/1000, ISO200, die Bearbeitung erfolgte in Luminar Neo.
Und zum Ende noch ein paar Details zu mir. Ich denke, man könnte sagen, dass ich eine ambitionierte Hobbyfotografin bin, die aber dennoch recht gezielt und geplant auf Motivsuche geht (außer im Urlaub, da wird alles geschossen, was mir vor die Linse kommt). Ich habe schon immer viel fotografiert, allerdings bis 2018 ausschließlich im voll-automatischen Modus und ohne - wie auch immer geartete - Kenntnisse, was eine Kamera eigentlich macht und kann.
Im Sommer 2018 kam dann die Wende, als ich das erste Mal am Lübecker Fotomarathon teilnahm und ebenfalls zum ersten Mal eine spiegellose Systemkamera in meinen Händen hielt (Olympus war einer der Sponsoren und vergab Leihkameras). Danach hatte es mich gepackt. Ich kaufte meine erste Systemkamera, eine Sony a6000, besuchte ein paar Volkshochschulkurse und entdeckte zudem, dass es auf Youtube jede Menge wirklich guter Tutorials und Fototrainer gab. Aber der größte Sprung in meinen Fähigkeiten begann mit der Pandemie, als ich mich einigen Foto-Challenges im Netz anschloss, um mich im Lockdown zu beschäftigen. Denn bis zum heutigen Tag fordern sie mich immer wieder aufs Neue und lassen mich neue Techniken und Herangehensweisen lernen – dieses Projekt ist das beste Beispiel! Somit hatte die Pandemie definitiv auch etwas Gutes! ;)
Und damit möchte ich mich ganz herzlich bei Frank für die Möglichkeit bedanken, bei diesem einmaligen Projekt mitzuwirken. Es hat großen Spaß gemacht und ich bin schon sehr auf das Endergebnis gespannt.
In diesem Sinne, bleibt gesund und „Happy Shooting“!
Lübeck, Mai 2022
Julia Resch