#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #41
Detlef Both (69) aus Bremen, Hobbyfotograf
Zu Mark Cohens Bild „Upside-down girl“ von 1974 (S.130-131):
Ich bin hin- und hergerissen.
Einerseits begeistert mich das Bild sofort spontan. Es zeigt einen Teil eines Mädchenkopfes, aber verkehrt herum. Man sieht nur die herabhängenden dichten Haare, die scheinbar nach außen gewölbte Stirn und die intensiv in die Kamera blickenden Augen. Den Hintergrund bildet eine steinerne Treppe mit Rissen und Löchern, die schon länger nicht mehr gefegt worden ist.
Das Bruchstückhafte, Fragmentarische des Fotos regt sofort meine Fantasie an. Was tut das Mädchen da? Woran hängt es kopfüber? Wie sieht es aus? Ist es allein? - Kein einfaches Bild, aber eins, von dem ich mich gerne inspirieren lassen möchte.
Andererseits drängen sich mir sofort Bedenken und Zweifel auf. Ohne eigene Kinder frage ich mich: Wo soll ich ein Mädchen in dieser ungewöhnlichen Position finden und fotografieren können? Ich kann wohl kaum um Spielplätze herumschleichen und fremde Kinder ablichten, schon gar nicht aus unmittelbarer Nähe.
Die Bedenken werden nicht kleiner, nachdem ich mich genauer mit der Fotografie Mark Cohens beschäftigt habe. Mark Cohen wurde 1943 geboren. Er lebt und fotografierte die längste Zeit seines Lebens in Wilkes-Barre, einer Kleinstadt in den Bergen Pennsylvanias. In bewusster Abkehr von den gängigen Regeln der Portraitfotografie rückt er den Menschen mit einem Weitwinkelobjektiv extrem dicht auf die Pelle. Oft benutzt er zusätzlich noch einen Blitz, der die Motive in der Dämmerung stark vor dem Hintergrund abhebt. Dabei kuckt er nie durch den Sucher der Kamera, die Ergebnisse sind daher oft vom Zufall bestimmt. Im analogen Zeitalter wusste Cohen erst in der Dunkelkammer, was er aufgenommen hatte.
Seinen Stil bezeichnet er selbst als „intrusive“, also aufdringlich, zudringlich. Und tatsächlich ist es heute unvorstellbar, so offensiv durch die Straßen zu laufen und Gesichter, Knie oder Knöchel ungefragt aus nächster Nähe zu fotografieren. Ganz abgesehen davon, dass sich die Gesetze zum Recht aufs eigene Bild inzwischen deutlich geändert haben. Wenn ich Cohen in diesem Video zuschaue, assoziiere ich eher einen Stalker oder aggressiven Paparazzi, als einen Fotografen:
Cohens „Grab shots“ sind schon übergriffig dicht dran an den Menschen, aber oft werden sie im Nachgang noch weiter beschnitten, um die Aufmerksamkeit auf körperliche Details zu lenken.
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Auch bei „meinem“ Foto „Upside-down girl“ bleibt unklar, ob dieser seltsame Ausschnitt zufällig so entstanden ist oder bewusst durch Beschnitt erzeugt wurde. In jedem Fall verstärkt er das Rätselhafte des Bildes und den eindringlichen Blick des Mädchens.
Bei längerem Betrachten stellt man darüber hinaus fest, dass man sich die Augen auch als „richtig herum“ vorstellen kann, die Stirn wäre dann die Mundpartie. Ähnlich wie bei einem Vexierbild sieht man dann zwanghaft immer wieder diese Anordnung – zutiefst verstörend, weil unförmiges Fleisch Mund und Kinn ersetzt.
Wie bin ich nun meine Aufgabe angegangen?
Ein spontanes Streetfoto kam nicht infrage, also musste ich ein Kind finden, mit dem ich die Situation nachstellen konnte. Nach einigen Telefongesprächen hatte ich Glück:
Freunde haben eine 4-jährige Enkelin, die sich kopfüber am Schaukeltrapez fotografieren lassen wollte. Auch die Eltern waren einverstanden.
Als Kamera benutze ich die handliche Olympus E-M5 III mit dem schlanken 14-42mm Pancake Objektiv. Das sah insgesamt so ähnlich aus wie Mark Cohans Leica und wirkte für das Kind nicht so bedrohlich wie eine größere Kamera mit noch größerem Weitwinkel. Aus dem gleichen Grund habe ich auf einen Blitz verzichtet. So konnte ich unauffälliger und im (lautlosen) Serienmodus fotografieren.
Bei der Bearbeitung der Fotos musste ich mich entscheiden: Sollte ich Cohens leicht unscharfe, grobkörnige Aufnahme imitieren oder dem Bild einen technisch hochwertigeren Touch verpassen? Ich habe mich für die modernere Variante entschieden, weil ich das Bild nicht noch weiter verfremden wollte. Auch so kann es Irritationen auslösen, weil die Augen scheinbar natürlich aussehen, aber der Mund darunter fehlt. Der Vexierbild-Effekt wirkt hier in abgeschwächter Form, weil immerhin die Nasenspitze noch im Bild ist.
Die Steinstufen habe ich ignoriert und den Hintergrund etwas abgedunkelt, um nicht von den wesentlichen Elementen des Bildes abzulenken: dem intensiven Blick und der Löwenmähne.
An meinem Bild gefällt mir nicht zuletzt die Dynamik, die von den fliegenden Haaren ausgeht. So ist ein norddeutscher Sturm auch mal für etwas gut.
Wer sich für weitere Fotos von mir interessiert, kann gerne hier einmal vorbeischauen: