#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #80
DER FOTOGRAF
Tom Stoddart, britischer Fotojournalist (*1953, †2021), war 40 Jahre auf der ganzen Welt unterwegs und berichtete über soziale Themen, Konflikte, Katastrophen und Kriegsgeschehen. Er favorisierte die Schwarz-Weiß-Fotografie und auf die Frage nach dem „Warum?“ zitierte er gerne die prägnante Bemerkung des kanadischen Fotografen Ted Grant: „Wenn du in Farbe fotografierst, siehst du die Farbe ihrer Kleidung, aber wenn du in Schwarzweiß fotografierst, siehst du die Farbe ihrer Seele.“ (Ted Grant)
Wenn man das fotografische Lebenswerk von Stoddart betrachtet, gewinnt man den Eindruck, der Fotograf sei bei allen wichtigen Ereignissen der vergangenen 35 Jahre vor Ort gewesen. Beim Mauerfall in Berlin, in Beirut, als israelische Streitkräfte den PLO-Stützpunkt von Jasser Arafat bombardierten, beim Einsturz des World Trade Center in New York. Sein Fokus lag dabei oft auf außergewöhnlichen Frauen, die mit Durchhaltevermögen, Stolz und starkem Willen den Kriegs- und Extremsituationen entgegentraten.
Während des Bosnienkriegs in den 1990er Jahren entstanden wohl seine berühmtesten Fotografien. Als er 1992 in Sarajevo über die Kämpfe um das bosnische Parlament berichtete, wurde Stoddart selbst bei einem Bombardement in der Nähe des Parlamentsgebäudes schwer verletzt. Nach seiner Evakuierung verbrachte er ein Jahr damit, sich zu erholen. Die Sarajevoer hatten Stoddart jedoch so fasziniert, dass er 1993 zurückkehrte, um deren Leben weiter zu dokumentieren.
In einem Interview mit Frank Keil antwortete er auf die Frage: „Das du selbst Opfer geworden bist, hat das deine Sicht auf die Dinge geändert?“ (Frank Keil) „Nein – außer, dass ich ein besserer Fotograf geworden bin. Weil ich nun weiß, dass man vielleicht nur einen Moment hat, um ein gutes Foto zu machen.“ (Tom Stoddart) (© Frank Keil | MaennerWege.de | September 2015)
In dieser Zeit in Sarajevo ist dann auch das Foto entstanden, dass es für mich zu interpretieren galt. Es zeigt Meliha Varesanovic - eine Symbolfigur für bosnische Frauen des Bürgerkrieges 1994, die trotz der bestehenden Kriegsverhältnisse deren Würde vertreten hat.
WAS SEHE ICH ALS ERSTES
- Eine Schwarz-Weiß-Fotografie
- Wahrscheinlich eine Kriegssituation
- Ich sehe eine Häuserfront deren unterer Teil durch Sandsäcke geschützt ist
- Eine attraktive Frau, geschminkt, mit frisch frisiertem Haar, engem Blümchenkleid, Schmuck, Handtasche und Pumps, schreitet elegant und selbstbewusst die Straße von entlang
- Sie kommt von leicht rechts oben
- Im Vordergrund links steht ein Soldat, dessen Hände auf ein umgehängtes Gewehr gestützt sind, in der rechten Hand ein Zigarettenstummel
- Es ist im Querformat aufgenommen und das Bild endet oben am Rever des Soldaten
IDEEN ZUR UMSETZUNG
Grundsätzliche Frage: Will ich überhaupt eine Waffe auf meinem Bild zeigen? Ich tue mich eher schwer damit.
- Starke Frau auf einer Friedensdemo
- Da wir nur 20 Minuten von Straßburg entfernt wohnen und die Präsidentschaftswahlen anstehen, könnte dort Militärpräsenz gegeben sein. Vielleicht eine Französin, die stolz das Wahllokal verlässt, nachdem sie ihre Stimme abgegeben hat
- Hier auf dem Land: Eine gegerbte ältere Frau, die dem schlechten Wetter trotzt und ihren Garten oder das Feld bestellt
- Eine Frau im typischen Männerberuf
- Frau mit typischen Männerhobby
- Joggerin, die trotz Starkregen für den Marathon trainiert
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DIE HERANGEHENSWEISE
Sonntag, 10.04.2022, es stand die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich an. Ich dachte, die Chance auf Polizei oder Militär zu treffen ist sicherlich groß, auch wenn ich mich gedanklich schwer tu, eine Waffe mit ins Bild zu integrieren.
Meine Olympus OMD-EM10 II mit dem 45mm Objektiv, 1:1,8, 2 Speicherkarten und 4 Akkus waren startklar und das Outfit gewählt – meine Devise für den Tag: schrille Farbe, dann gehe ich eher als Touri durch ;-)
Los gings mit meinem Schatz Bernie von Kehl mit der Straßenbahn direkt zum Hauptbahnhof nach Straßburg. Nach der ersten Stunde war weder ein Beamter, noch eine französische Grande Dame in Sicht. Auch ein Wahllokal zu finden war schwerer als gedacht, also erstmal was Essen und dann weiter in Richtung Münster. Ich war schon ziemlich frustiert, da mir nichts so wirklich eingefallen ist. Zwischendurch hier und da ein Streetbild gemacht, damit zumindest ein bisschen was auf der Speicherkarte drauf ist.
Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass ich am Montag nochmal losziehen muss und plötzlich - nach 4 Stunden - stand sie da in ihrem roten Kleid. Also weg mit den ursprünglichen Ideen... denn erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. :-)
Eine junge Frau, der Typ Curvy-Modell, in einem opulenten roten Hochzeitskleid. Mitten im Getümmel der Touristen, bei ca. 10°C, präsentierte sie sich vor der Kamera ihrer Hochzeitsfotografin. Vollkommen selbstbewusst, mit erhobenem Haupt mit ihrem silbernen Diadem im Haar.
Nun galt es für mich die richtige Position zu finden um das Menschengewimmel aus dem Bild zu halten. Zunächst hatte ich mich links von der Braut positioniert, doch dann verlagerte ich meinen Standort nach rechts. In dem Moment lief auch schon der Bräutigam zu seiner Liebsten und ich drückte ab.
Ich habe mich an Tom Stoddarts Bild orientiert und den Kopf des Mannes verborgen gehalten. Er ist ebenfalls im Vordergrund des Bildes zu sehen, aber entgegen dem Original ist bei meiner Interpretation der Mann in Bewegung. Dieser läuft seiner mondänen Frau von rechts entgegen und sie begleitet ihn dabei mit ihrem offenen Blick.
Ich freue mich diese Szenerie gefunden zu haben, in der eine starke Frau sich selbstbewusst auf dem Münsterplatz in Straßburg fotografieren lässt und, trotz vielsagender Blicke einiger Zuschauer, diesen Moment gemeinsam mit ihrem Mann genießt. Auch habe ich mich, im Gegensatz zu Stoddart, für Farbe entschieden, um dem roten Kleid seinen Platz zu lassen!
DAS BIN ICH
Antje König (55 Jahre jung)
Meine erste Berührung mit einer Kamera fand im November 2014 während einer Reise nach São Paulo statt. Damals drückte mir der Streetfotograf Thomas Leuthard einfach eine seiner Kameras in die Hand, im P-Modus, den ich heute noch bevorzuge. Es dauerte nicht lange und er infizierte mich mit seiner Leidenschaft für die Streetfotografie. Zahlreiche Reisen folgten und ich bekam mehr und mehr Sicherheit mit der Kamera, wenn mir die Technik auch bis heute immer wieder neue Rätsel aufwirft.
Oft reicht schon ein gesonderter Hintergrund, ein spezieller Lichteinfall oder eine herausstechende Situation um die Idee für ein Bild entstehen zu lassen. Hier kommt mir sicher auch die Leidenschaft für meinen Beruf als Friseurin zugute, wo man ebenfalls im Vorfeld visuell das Ergebnis schon im Kopf kreiert.
Aber der mit Abstand wichtigste Aspekt für mich ist der Spaß an der Fotografie. Sie ist wie Balsam für die Seele. Ich habe über sie so viele fantastische Menschen kennen gelernt, die mich bereichern und regelmäßig begleiten. Sei es auf Fotowalks, Workshops, Vorträgen oder in den sozialen Medien – es ist einfach nur fantastisch!!!
https://www.instagram.com/antje.grafie/
Vielen Dank lieber Frank, für dieses wundervolle Projekt und dafür, dass du mich ganz schön herausgefordert hast ;-)
Antje